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Martin Scholten. Reduktion – Rekomposition – Linie Martin Scholtens künstlerischer Antrieb ist die stete visuelle Reduktion des Gesehenen, seiner Umwelt und Ideen in komplexe, farbige Liniengeflechte. Schon immer habe er im Geiste malerische Kompositionen in Zeichnungen übersetzt, reduziert, verknappt, auf die Linie und damit den Punkt gebracht. Letztendlich, so beschreibt er selbst, sei dieses Übersetzen 'wie eine Sprache, ein Vokabular, das man versucht, auszudrücken'. Scholtens Bilder entstehen in seriellen Prozessen – rhythmische Strukturen und farbenreiche Harmonie bilden die Grundmuster der großformatigen Acrylgemälde. Wie Schlangen mäandern farbige Linien über die Leinwände vor blass violetten, aluminiumschimmernden oder weißen Fonds. Die sich kreuzenden, aufeinander zu- und voneinander weglaufenden Formen sind die Spuren einer dynamischen Auseinandersetzung mit den Möglichkeiten der Malerei, mit ihrer Übersetzung in die Dimensionen Farbe und Linie. Seine Maltechnik ist bestechend unmittelbar: Die Acrylfarbe fließt direkt aus der umgedrehten Farbflasche auf den Bildträger. In konzentrierten Bewegungen fährt Scholten mit den Farbflaschen über die Leinwand und lässt so eine Farbe nach der nächsten die Bildfläche erobern. Die Breite der Farblinie resultiert allein aus der Größe der jeweiligen Flaschenöffnung. Nur selten werden die Farben gemischt oder ausgearbeitet, ein Pinsel kommt fast nie zum Einsatz. Die Unmittelbarkeit seiner Maltechnik erinnert an die durch emotionale Empfindung und spontane Eingebung gelenkte Idee des abstrakten Expressionismus. Scholtens Linienlabyrinthe sind jedoch nicht Ergebnisse einer gestischen, spontanen Aktion, sondern einer lyrischen Meditation über Farb- und Formharmonien. Sorgfältig bereitet er die 'richtige' Stimmung vor: Wie in einer orchestralen Komposition legt Scholten zunächst die Harmonie fest, in der ein neues Bild klingen soll, und wählt dafür die Farben als Akteure des Orchesters. Das Malen, das heißt, das Führen der Farbflaschen über die Bildfläche, geschieht dann im langsam konzentrierten Tempo. Dem überlegten Malprozess steht der visuelle Eindruck von Schnelligkeit und Dynamik gegenüber – eine Spannung aus dosierter Bewegung und malerischer Leichtigkeit. Grundsätzlich versteht sich Martin Scholten als Techniker: Dies kommt besonders in seinen Rüttelzeichnungen (2010), Speedingmotorpaintings (2007) und Rüttelbildern (2012) zum Ausdruck, in denen er Maschinen zu Mitakteuren seiner Kunst macht. Mal ist es ein alter Buchbindertisch, mit dem gemeinhin Papierstapel auf Stoß gerüttelt werden, mal ein Soßenrührer, die Scholten unmittelbar in den Entstehungsprozess mit einbezieht. An die Geräte montiert er Pastellkreiden oder drei in Acrylfarbe getauchte Pinsel und überlässt es dann dem eingeschalteten Gerät, die Farben über den Bildträger gleiten zu lassen. Er selbst steuert den mechanisch betriebenen Prozess des Zeichnens durch die bewusste Festlegung von Beginn und Ende der Farbspur sowie durch leichte Verschiebungen des Bildträgers während der Aktion. Die mechanischen Bewegungen der Maschine lassen rhythmische Linienverläufe entstehen, die mal nur zart und durchscheinend, mal entschieden und kräftig sind. Scholten, der vor seinem Kunststudium eine Ausbildung zum Mechaniker absolviert hat, erforscht in dieser zeichnenden Zusammenarbeit mit Maschinen die 'Schönheit der Technik', die zwischen Sensibilität und brachialer Gewalt changierenden Hervorbringungen der Maschinen. Dabei versteht er seine mitarbeitenden Geräte als gleichberechtigte Partner, die etwas signifikant Eigenes ins Bild einbringen, denn, so hebt er hervor, 'das, was der Tisch da hervorholt, das ist etwas, was man nicht malen kann'. Für Scholtens großformatige Gemälde gelten ihm vor allem Willem de Kooning (1904–1997) und Jean-Michel Basquiat (1960–1988) als zentrale Inspirationsquellen. In intensiven bildnerischen Auseinandersetzungen beschäftigt er sich wiederholt mit für ihn prägenden Gemälden der beiden Protagonisten der Malerei des 20. Jahrhunderts. In ihnen findet er entscheidende Impulse für seine eigenen Bilder. Willem de Koonings berühmtes Gemälde Door to the River von 1960 (Whit-ney Museum of American Art, New York) markiert etwa den Ausgangspunkt für Scholtens Genius + Love-Serie von 2008/09. De Koonings Gemälde ist inspiriert von den Landschaften, die der Maler auf seinen Ausflügen außerhalb der Großstadt erkundete. In breiten expressiven Pinselstrichen lässt der Maler die Assoziation einer Tür wach werden, die den Blick auf den im Titel genannten Fluss freigibt – zugleich bleibt die zwischen Tiefenräumlichkeit und Fläche changierende Darstellung entschieden abstrakt. In seinem Bild Genius + Love von 2009 stellt Scholten kurzerhand das Gemälde des Kollegen im Geiste auf den Kopf und reflektiert es in seiner eigenen Bildsprache. Die Anbindung an de Koonings Gemälde bildet dabei zunächst die für seine Werke der 1960er Jahre typische Farbpalette von gedecktem Gelb, Rosa, Blau, Magenta und Umbra. Diese Farben aufnehmend, übersetzt Scholten die abstrakte Farbkomposition konsequent in ein dynamisches Liniengeflecht. Tiefenräumlichkeit, Farbqualitäten und -akzente der bildnerischen Vorlage finden ihre Entsprechungen in Scholtens mäandernden farbigen Linien. Dabei sind die bewegt aufgelockerten Farbschlangen als tatsächliche Übersetzung zu verstehen, als Überführung in ein 'Vokabular, das man versucht, auszudrücken'. Scholten bezeichnet dieses angewendete Vorgehen als Rekomposition: das Reduzieren des Gesehenen auf die wesentlichen Linien, die Überführung der von ihm wahrgenommenen Essenz in seine eigene Sprache. Für die Genius + Love-Serie bildet dieser Prozess eine Initialzündung. Ausgehend von seiner Rekomposition von de Koonings Door to the River fertigt Scholten die gesamte Serie in den aus diesem Bild entnommenen Farben. Bei den darauf folgenden Arbeiten der Serie verzichtet er jedoch auf kompositionelle Anlehnungen und entwickelt in ihnen neue, gänzlich eigene Kompositionen, die aus der jeweiligen Beobachtung der Umgebung resultieren. Strategien des Referierens auf andere bestehende Kunstwerke oder sogar ein regelrechtes Sampeln oder Rekomponieren wie in Scholtens künstlerischem Vorgehen haben eine lange Tradition in der Kunstpraxis. Spätestens für die Postmoderne kann konstatiert werden, dass das Aufgreifen und Modifizieren von Bestehendem geradezu unerlässlich geworden ist, wie Isabelle Graw, Stefanie Kleefeld und André Rottmann es 2008 formulierten: 'Nach dem Ende der modernistischen Vorstellung der selbstgenügsamen Präsenz des autonomen Kunstwerks ist es unbestreitbar, dass keine künstlerische Arbeit außerhalb des Modus des Verweisens operieren könnte und avancierte künstlerische Praktiken immer auch eine kritische Reflexion auf ihre historischen Voraussetzungen unternehmen.' Jean-Michel Basquiat kann als Paradebeispiel des unentwegt sampelnden Künstlers im ausgehenden 20. Jahrhundert gelten. Er referierte in seinen Gemälden nicht nur auf die Kunstgeschichte von Leonardo da Vinci über Picasso bis zu Andy Warhol, sondern integrierte in seinen erzählungsreichen Bilder auch Verweise auf die afrikanische Diaspora in Amerika sowie Versatzstücke der für ihn prägenden Literatur und Musik von William Burroughs über Charlie Parker bis zu Hip-Hop-Größen seiner Zeit. Oftmals arbeitete er sich dabei auch unmittelbar an bekannten Kunstwerken seiner Vorgänger ab, wie etwa Manets Olympia (Musée d’Orsay, Paris) oder Picassos Les Demoiselles d’Avignon (Museum of Modern Art, New York), die er als Ausschnitte oder Versatzstücke für neue Bildfindungen verwendete. Basquiats komplexes referentielles Verfahren forderte Scholten bereits 1999 zu einer direkten malerischen Auseinandersetzung heraus. In seinem Gemälde Untitled versucht er, Basquiats Untitled (The Schorr Family Collection) aus dem Jahr 1984 'aufzugliedern', wie er formuliert. Während Basquiats Gemälde einen weitreichenden inhaltlichen Kosmos öffnet von der menschlichen Anatomie über Textbezüge bis hin zu Stadtplänen und dem Bezug auf sich selbst durch ein Selbstporträt mit dem wiederkehrenden Kronensignet, konzentriert sich Scholten konsequent auf den farblichen Aufbau des Gemäldes. Er bricht in seiner Antwort auf Basquiat dessen komplexes Konglomerat auf die für Scholten entscheidenden Farbverteilungen herunter und akzentuiert diese durch zwei das Bild parallel und horizontal durchlaufende Linien. Dabei versteht er seine bildliche Auseinandersetzung mit Basquiat nicht als Zitat, sondern als Sample oder malerische Rekomposition, denn er sei hier bewusst nicht 'auf die Geschichte eingegangen, sondern nur auf die Linienführung'. Für Instant Chef von 2003/04 aus der Sambaelephant & Castle-Serie dient Scholten Basquiats Untitled (Ernok) von 1982 (Estate of Jean-Michel Basquiat) als Inspirationsquelle. Hier setzte Basquiat eine Figur mit erhobenem rechten Arm bildfüllend in Szene und ließ sie von dem Schriftfeld '(EEEE) ERNOK ERNK NA EK' begleiten. In seiner Antwort reduziert Scholten die Figur auf eine grüne Linie, die in einem großen Bogen die Bildmitte umspielt und – den erhobenen Arm assoziierend – in der linken Bildhälfte einen schmalen Schlenker macht. Indem er das Bild im Wesentlichen auf die grüne, großzügig über das Bild verteilte Linie beschränkt, bleiben große Teile der Leinwand weiß und bewusst ungestaltet. Die entschieden gesetzte Leerstelle im Bild versteht Scholten ebenfalls als Referenz auf Basquiat, denn dieser habe in seinen Werken 'Denkblasen gelassen und trotzdem seine Geschichten erzählt'. Diese als bildliche Freiflächen übersetzten 'Denkblasen' setzt Scholten als strukturierende Gestaltungsmittel ein. In seiner Suche, seine Sprache und sein Vokabular malerisch auszudrücken, wird neben den Farblinien die bewusste Leerstelle im Bild zum entscheidenden Element. Scholten fordert den Betrachter mit den durch die Linien definierten Freiflächen zur Interaktion und gedanklichen Auffüllung der Leerstellen auf: 'indem ich das alles reduziere auf die farbigen Linien, die die Fläche nutzen und die der Betrachter dann quasi selbst ausfüllen muss'. So wird der Dreischritt Reduktion, Rekomposition, Linie letztendlich zum dynamischen Dialog mit dem Betrachter. Eva Fischer-Hausdorf

Publisher
Release Date 12th June 2015
Credits
Artist: Martin Scholten
Printrun 300
Identifiers
umbreit: 8282381
ISBN-13: 978-3-86485-106-3
Original Price 26.00 EUR
Work  
Topics Art, Hamburg, Painting
Methods Painting
Format Paperback
Binding Thread bound
Dimensions 28.3 × 23.3 cm
Pages 96
Content Photos, Text